Fast 50 Prozent der Deutschen trauen sich laut Umfragen nicht mehr, ihre Meinung zu sagen. Kein Wunder, denn eine links-grüne Minderheit brandmarkt alles, was ihr nicht passt, als «Nazi» und rechtsextrem.
Hugo Müller-Vogg
Vor mehr als drei Jahrzehnten gab sich der saarländische SPD-Vorsitzende Lafontaine frech wie Oskar: «Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzise gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.»
Die Empörung war damals, im Sommer 1982, riesig, innerhalb wie ausserhalb der SPD. So gehe man nicht mit einem Bundeskanzler und Parteivorsitzenden um, lautete der Tenor. Nur kam niemand auf die Idee, Lafontaine vorzuwerfen, er verharmlose die Naziherrschaft und relativiere damit den Holocaust. Altkanzler Schmidt revanchierte sich sechzehn Jahre später ebenso knallhart. Er verglich den inzwischen zur Linkspartei gewechselten Lafontaine mit «Adolf Nazi»: Beide seien charismatische Redner gewesen.
Boris Palmers Judenstern-Vergleich
Nun sind Nazi-Vergleiche meistens völlig unangebracht. Entweder sie verharmlosen das NS-Regime, wenn sie irgendeine Äusserung oder Handlung von heute mit den Verbrechen der Nazis gleichsetzen, oder sie plustern eine Verfehlung des politischen Gegners zur monströsen Untat auf. Gleichwohl werden solche billigen Vergleiche immer wieder angestellt. Wer aus Sicht der deutschen Links-Grünen und der Mainstream-Medien nicht links genug ist, der wird schnell als Nazi gebrandmarkt.
Das war erst kürzlich an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main zu beobachten. Die Professorin Susanne Schröter, Direktorin des Forschungszentrums Globaler Islam, hatte es gewagt, den Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer zu einer Tagung über Integration einzuladen. Der hat sich mit seiner Partei, den Grünen, längst überworfen. Palmer provoziert gerne, statt im politisch korrekten Mainstream mitzuschwimmen. Zu allem Übel hatte Palmer vor einiger Zeit einen schwarzen Fussballer im Internet mit dem Wort «Neger» belegt – was er satirisch gemeint haben wollte.
So kam, was kommen musste. Auf dem Campus protestierten die Protagonisten einer lupenreinen Cancel-Culture gegen Palmers Auftritt, beschimpften ihn lautstark als Nazi. Als Palmer dann die auf ihn gemünzte Bezeichnung mit dem Judenstern verglich, kannte die Empörung kein Halten mehr.
Willige Helfer in den öffentlichrechtlichen Anstalten
Natürlich war dieser Vergleich mehr als deplatziert. Ebenso deplatziert war die darauffolgende Empörungswelle. Sie gipfelte in der Forderung, die Institutschefin Schröter mundtot zu machen. Wer da mitmischte, hatte sogar den Segen des Universitätspräsidenten Enrico Schleiff. Der verkündete ex cathedra: «Jede explizite oder implizite den Holocaust relativierende Aussage ist vollkommen inakzeptabel und wird an und von der Goethe-Universität nicht toleriert.»
Das zielte auf den Judenstern-Vergleich. Offenkundig toleriert die Goethe-Universität jedoch die Gleichsetzung von Menschen mit politisch angeblich nicht korrekten Ansichten mit Nazis. Diese Form der Verharmlosung des Nationalsozialismus mit seiner kruden Rassentheorie und seinem mörderischen Charakter ist in linken Kreisen längst gang und gäbe. Die meisten Medien, allen voran die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten, sind dabei willige Helfer.
Der unterschiedliche Umgang mit Lafontaines KZ-Vergleich und Palmers Judenstern-Referenz zeigt, wie sehr sich das Meinungsklima in der Bundesrepublik verändert hat. Heute gleicht der Meinungskorridor einer zweispurigen Strasse, deren rechte Spur viel schmaler ist als die linke. Wer gegen eine Frauenquote oder das Gendern argumentiert, wer nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen möchte, wer sich gegen eine noch höhere Besteuerung der Reichen ausspricht oder es gar wagt, dem Klimaschutz nicht eindeutig Priorität gegenüber der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen und der Sicherung von Arbeitsplätzen einzuräumen, der hat einen schweren Stand. Schlimmer noch: Er wird von vielen Medien ausgegrenzt.
Die SED-Nachfolgepartei ist willkommen, die AfD nicht
Es ist geradezu grotesk. Einerseits haben klassische Medien ihre Türwächterfunktion weitgehend eingebüsst. Dank den neuen Medien kann jeder sein eigener Chefredakteur sein. Andererseits klagen immer mehr Menschen, man dürfe so vieles nicht sagen. Bei einer Allensbach-Umfrage im Jahr 2021 stimmten nur 45 Prozent der Aussage zu, man könne seine politische Meinung frei äussern; 44 Prozent waren gegenteiliger Ansicht. 1991 waren noch 78 Prozent der Auffassung, nicht nur die Gedanken, sondern auch die Worte seien frei.
Dabei spielt es keine Rolle, dass das Recht auf freie Meinungsäusserung verfassungsrechtlich garantiert ist. Entscheidend ist die gefühlte und erlebte Meinungsfreiheit, die Erfahrung, mit seiner Meinung nicht angeprangert zu werden. Bezeichnenderweise fühlen sich die Anhänger der Grünen am freiesten, die AfD-Sympathisanten dagegen am wenigsten frei. Dies ist ein bedenklicher Befund, und ein höchst gefährlicher obendrein. Denn ohne Meinungsfreiheit ist keine öffentliche Auseinandersetzung, kein Ringen um die Meinungsführerschaft mehr möglich – und damit auch keine liberale Demokratie.
Dass weniger als die Hälfte der Deutschen noch ihre Meinung zu sagen wagen, ist ein durchschlagender Erfolg der Cancel-Culture. Diese Zuspitzung von Political Correctness verfolgt das Ziel, als unangemessen eingestufte Meinungen aus dem öffentlichen Diskurs herauszuhalten. Menschen, die «falsche» Ansichten vertreten, sollen erst gar nicht zu Wort kommen dürfen.
Dies zeigt sich bei der Besetzung der Talkshows der öffentlichrechtlichen Sender. Vertreter der in Teilen rechtsextremistischen AfD sind davon praktisch ausgeschlossen, Repräsentanten der in Teilen linksradikalen Linkspartei alias SED dagegen stets willkommen. Auch wenn man der Meinung ist, die AfD mit ihren völkischen und rassistischen Tönen würde vom Wähler am besten wieder in die Versenkung geschickt, kann man ihre relativ starke parlamentarische Existenz nicht einfach ausblenden, jedenfalls nicht mit demokratischen Argumenten.
Die politischen Tugendwächter sind selbst eine Minderheit, allerdings dank medialem Rückenwind eine mächtige. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung hält beispielsweise die angeblich geschlechtergerechte Schluckaufsprache («Mitglieder – Pause – Innen») für Unsinn, ärgert sich, in Funk und Fernsehen ständig Gender-Sprech anhören zu müssen. Auch haben mehr als zwei Drittel der Deutschen mit Bezeichnungen wie «Zigeunerschnitzel» oder «Mohrenkopf» kein Problem. Aber sie achten darauf, was «man» noch sagen darf.
Die vielfältigen Bemühungen, die Deutschen in die richtige, links-grüne Spur zu zwingen, sind nicht das Ergebnis einer grossen Verschwörung, eines «deep state». Vielmehr bilden unter den Journalisten jene mit linken und grünen Einstellungen die Mehrheit. Wobei der Begriff «Journalist» bei vielen Mitarbeitern der Öffentlichrechtlichen an Etikettenschwindel grenzt. Hier sind häufig politische Aktivisten am Werk, toleriert von ähnlich gesinnten oder konfliktscheuen Vorgesetzten. Mögen die rückständigen Zuschauer und Zuhörer sich über diese Umerzieher auch aufregen – ihre Zwangsgebühren müssen sie dennoch zahlen.
Erinnerungen an Viktor Orban
Die Strategie, bestimmte Meinungen aus dem politischen Diskurs zu verbannen, erinnert in gewisser Weise an die «illiberale Demokratie» à la Viktor Orban. Anders als in Ungarn wird «das Richtige» in Deutschland nicht von oben verordnet, sondern mehr oder weniger beiläufig implementiert. Getragen wird das alles keineswegs nur von den Medien oder Politikern aus den Reihen der Grünen, der SPD und der Linken. Dabei sind auch staatliche Instanzen hilfreich.
Eine Errungenschaft von Rot-Grün sind beispielsweise die unzähligen Frauen- und Gleichstellungsbeauftragt:innen (m/w/d) auf ihren gut dotierten Stellen. Dass die CDU dabei in vielen Kommunen mitmacht, um als modern zu gelten, erleichtert den anderen das Geschäft. Vom Staat ebenso grosszügig gefördert werden Organisationen, die sich offiziell dem Kampf gegen Rassismus und Antifaschismus verschrieben haben.
Dem Kampf gegen den Linksradikalismus wird politisch dagegen so gut wie kein Augenmerk geschenkt. Das ist kein Zufall. Denn viele der staatlich alimentierten Antifaschisten hängen ihrerseits einem linksradikalen Weltbild an, was ihre staatlichen Financiers aber kaum stört. Wer gegen angebliche Nazis kämpft, gehört aus links-grüner Sicht automatisch zu den Guten. Alle diese Anti-Vereine und Pro-Gleichstellungs-Initiativen haben einen hübschen Nebeneffekt: Hier lassen sich viele politisch korrekt Gesinnte auf Staatskosten unterbringen.
Es ist ein bedenklicher Befund, wenn die Meinungsforscher von Allensbach feststellen: «Die Mehrheit fühlt sich gegängelt.» Diese Gängelung erfolgt indes nicht von oben, wie wir das von Ungarn oder gar aus der Türkei kennen. Der das Meinungsklima prägende links-grüne politisch-mediale Komplex ist eine Minderheit, die Druck auf die Mehrheit ausübt. Folglich hat die Mehrheit den Eindruck, ihr werde vorgeschrieben, was sie zu denken habe und was sie noch sagen dürfe.
Political Correctness und Cancel-Culture sind mit einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft unvereinbar. Sie beschädigen zunehmend den liberalen Kern der Demokratie – die offene Kontroverse, das öffentliche Ringen um den richtigen Weg.
Hugo Müller-Vogg ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Herausgeber der «FAZ».
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